· 

Twenty Cigarettes oder das Schweigen im Gespräch

Im Film »Twenty Cigarettes« von James Benning passiert auf den ersten Blick rein gar nichts. Die zwanzig Zigaretten sind wörtlich zu nehmen: Das Rauchen von je einer Zigarette durch zwanzig verschiedene Personen ist die einzige Handlung. Ich sitze also im Kino und habe während ca. 90 Minuten zwanzig Gegenüber mit einer Zigarette, die wissen, dass sie für eine Zigarettenlänge Protagonisten des Films sind. Sie werden vom Regisseur vor einen jeweils für sie ausgesuchten Hintergrund gesetzt oder gestellt, sie sind allein, sie sprechen nicht.

 

Was ist daran interessant? Natürlich kann man sich für den Film als Kunstwerk interessieren, aber darum geht es mir hier nicht.

Die Filmbilder erinnern mich an Situationen, in denen ich jemandem für ein Gespräch begegne. Dieses hat entweder noch nicht begonnen oder es stockt. Vielleicht habe ich gerade eine Frage gestellt. Jetzt warte ich auf eine Entscheidung oder eine Antwort. Ich muss das Warten und die Stille aushalten. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf mein Gegenüber. Ich versuche, diese Aufmerksamkeit nicht distanzlos wirken zu lassen.

 

Obwohl oder vielleicht gerade weil die Situation im Film gegenüber jener im (Arbeits-)Alltag so formalisiert ist, macht sie mir bewusst, was alles in solchen Situationen meine Wahrnehmung steuern oder beeinflussen kann. Mir fällt auf, dass ich zwar auf die Mimik und Gestik der Person achte, aber deutlich weniger, als ich erwartet hätte. Oder jedenfalls nicht in der Weise, die naheliegend erscheinen könnte. Ich überlege mir nicht, was die Mimik und die Gestik über die Gedanken und Gefühle meines Gegenübers verraten. Ich versuche nicht, das Wohlbefinden der Person in der Situation zu beurteilen.

 

Ich achte vielmehr vor allem darauf, wie sich die Person auf den Kontext bezieht, d. h. auf den Raum, in dem sie sich befindet, auf die begrenzte Zeit, auf die Kamera als Gegenüber, auf die Sichtbarkeit, der sie ausgesetzt ist, auf die Haupt-Requisite, die ihr zur Verfügung steht: die Zigarette. Ich realisiere, wie meine Aufmerksamkeit, meine Gedanken, mein Gefühl variieren, je nachdem, wie die rauchende Person ihre Zigarettenlänge rhythmisiert oder wie sie damit umgeht, beobachtet zu werden: Adressiert sie mich direkt oder scheint sie eher ihren eigenen Raum wahrzunehmen: die Geräusche oder das, was es aus ihrer, aber nicht aus meiner Perspektive zu sehen gibt? Scheint sie die Zigarettenlänge gestalten zu wollen, raucht sie schneller oder langsamer, mehr oder weniger nahe an den Filter heran? Oder lässt sie den Zufall und die Gewohnheit die Zeitspanne rahmen?

 

Worauf will ich hinaus? Dieses Warten, Schweigen und Wahrnehmen im Film lässt sich auf das Warten, Schweigen und Wahrnehmen in der Gesprächsführungspraxis beziehen.

Der Film in seiner ereignisarmen und – wie mir nach einer Weile klar wird – auch an psychologisch relevanten Hinweisen armen Formalisierung erinnert mich daran, wie produktiv es ist, mir nicht sofort Gedanken zu machen über die Bedeutung von Wahrnehmungen. Er erinnert mich daran, dass es oft genau diese zunächst bedeutungslosen Wahrnehmungselemente sind, die sich im Lauf einer Begegnung zu sinnvollen Konstellationen fügen, aus denen heraus sich die »gute Frage« oder eine weiterführende Rückmeldung ergibt. Denn die differenzierte Wahrnehmung meines Gegenübers erfordert weniger das Eindringen in sein Seelenleben als die Aufmerksamkeit dafür, wie sie oder er Bezug auf die konkrete Situation nimmt.

 

Der Film zeigt mir einmal mehr, wie wichtig es ist, mir das Schweigen in Gesprächen nicht wegzuwünschen, sondern meiner Wahrnehmung zu erlauben, weite, auch unvorhergesehene Kreise darin zu ziehen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0