Die Übersetzung sei die logische Sprache des Dialogs, schreibt François Jullien in seinem Buch Es gibt keine kulturelle Identität. Er bezieht die Aussage auf den Dialog der Kulturen, der seiner Auffassung nach nicht in einer irgendwie gearteten gemeinsamen Sprache stattfinden kann, sondern nur im »Zwischen«, wie er es nennt, der Übersetzung. Ich glaube, die Aussage ist eine interessante Brille, um auch auf andere Arten von (professionellen) Dialogen und Kommunikationsformen zu schauen.
Meine ehemalige Gesangslehrerin ist Argentinierin. Sie spricht gut italienisch. Ich selbst kann mich auf spanisch verständigen, indem ich eine gute Dosis Italienisch untermische. Entsprechend haben wir uns über viele Jahre im Wechsel zwischen den zwei Sprachen unterhalten. Irgendwann nach langer Zeit haben wir entdeckt, dass viele der technischen Begriffe, die wir verwendet hatten, weder italienisch noch spanisch waren – ersteres hatte sie, letzteres ich angenommen. Sie waren Erfindungen, die ihren Zweck, zur Verständigung beizutragen, perfekt erfüllten.
Also doch eine gemeinsame Sprache? Ich glaube, dass die Erfahrung etwas anderes verdeutlicht. Wenn ich beim bewussten Lernen etwas verstehen will, dann spielt die Sprache dabei eine wichtige Rolle: Die Sache klärt sich für mich unter anderem in der Differenzierung ihrer sprachlichen Form – und das gilt auch für das bewusste Lernen von Fertigkeiten, Handlungen oder Verhaltensweisen. Diese Differenzierung ist ein Produkt der Übersetzung von kontextgebundenen sprachlichen Formen in andere Kontexte. Die Bedeutung eines Begriffs - und sei es jener eines »geraden Rückens« oder eines bestimmten »Stimmsitzes« als nicht-kognitive Beispiele - ist auch in einer geteilten »Muttersprache« nicht einfach gegeben. Sie ergibt sich wesentlich aus dem situationsbezogenen Gebrauch der Sprache. Deshalb verstehe ich kaum je jemanden ohne weiteres, auch wenn wir vermeintlich die gleiche Sprache sprechen. Verständigung bedeutet immer diese Arbeit der Übersetzung – die ich offenlegen kann, damit die Verständigung nicht im pseudoselbstverständlichen Sich-Verstehen in die Irre geht.
Denn der Glaube, dass man vom Gleichen spreche, wenn man die gleichen Worte mit der gleichen Selbstverständlichkeit benutzt, ist zwar bequem und zunächst beruhigend, aber diese Ruhe ist der Verständigung nicht immer zuträglich, jedenfalls nicht, wenn man annimmt, dass Verständigung ein Prozess ist und nicht einfach ein Zustand. In diesem Glauben kommt vielleicht die Tendenz zum Ausdruck, Übereinstimmung grundsätzlich höher zu werten als Differenz. Diese Tendenz aber widerspricht einer Vielzahl banaler Alltagserfahrungen: Sich für Neues zu interessieren und nicht nur das eigene Tagebuch zu lesen, sind nicht Merkmale ständig um die Ecke denkender Menschen.
Jullien schlägt vor, den Begriff der Differenz durch jenen des Abstandes zu ersetzen. Damit soll auch das Vergleichen vermieden werden. Anstatt zu vergleichen sollen wir uns bewegen. Die Bedeutung dieser Bewegung erscheint mir viel reicher als die eines mehr oder weniger kreativen Sich-Verbiegens. Für den Dialog leuchtet mir das unmittelbar ein.
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